Eine Strategie für den Lebensraum Schweiz
Das heutige Raumkonzept hatte bisher keine Wirkung, sagen die Landschaftsbeobachter und Raumplaner Köbi Gantenbein und Hans-Georg Bächtold. Ein neuer Wurf sei nötig. Dafür brauche es Führung durch den Bund, klare Ziele und eine Denkwerkstatt.
Das Raumkonzept Schweiz von 2012 hat viele Vorzüge, aber seine Wirkung auf das, was in und mit der Schweiz in den letzten zehn Jahren geschehen ist, liegt nahe bei null. Die Wirtschaft und unsere Lebensweise prägen die Raumstrukturen und die räumlichen Nutzungsmuster so, als gäbe es endlos natürliche und soziale Ressourcen. Dieses Konzept zu aktualisieren, die Gewohnheiten fortzuschreiben und zu ergänzen, genügt nicht. Unsere Landesplanung ist neu zu denken. Ein Vademecum liefert das Buch «Agenda Raum Schweiz» (Edition Hochparterre, 2022) mit Essays, Gesprächen und Positionen zur Planung des Landes. Fünf Denkanstösse 1. Regionale Entwürfe als zentraler Leitgedanke
Die Zukunftsbilder des Landes müssen in den Regionen entworfen werden – aus unterschiedlichen Perspektiven wie Städtebau, Qualitäten der Landschaft, Aufgaben der Landwirtschaft, Ansprüche ans Wohnen, gerechte und ressourcenschonende Mobilität, Umgang mit dem Klimawandel und gesellschaftlichen Veränderungen. Der Bund vergibt Aufträge für regionale Sondierungen und Entwürfe für den Lebensraum 2050 an die Planungsorganisationen in den Regionen, mit der Vorgabe, dass die ansässigen und massgebenden Raumakteure aus Gesellschaft und Wirtschaft mitwirken müssen. Die Umsetzung gelingt, wenn differenzierte Handlungsansätze über die Gemeindegrenzen, die Kantonsgrenzen und auch über die Landesgrenzen hinweg an unterschiedlichen, anschaulichen Entwürfen diskutiert werden. Leitend sind dabei nicht abstrakte Wachstums- oder Dichteziele, sondern das Benennen von bestehenden Qualitäten und deren Weiterentwicklung – basierend auf Erkenntnissen der Wissenschaften und nicht getrieben von Gewohnheiten und Machtansprüchen. Und es ist dafür zu sorgen, dass die regionalen Arbeiten zu einer bunten, gut verständlichen Collage über das ganze Land zusammengefügt werden.
Köbi Gantenbein war Mitgründer und bis 2022 Chefredakteur und Verleger der Zeitschrift «Hochparterre» für Architektur, Planung und Design.
2. Aufgaben und Räume von nationaler Bedeutung Der Bund muss raumwirksame Aufgaben von nationaler Bedeutung erfüllen. Sie übersteigen das Planungsvermögen der einzelnen Akteure. Zudem gibt es Räume von nationaler Bedeutung mit spezifischen Herausforderungen: die beiden Metropolitanräume Lausanne-Genf und Zürich-Basel, die Grenzräume, der Nord-Süd-Transitraum oder die Alpen und die obere Hälfte der Schweiz. Schwerpunktaufgaben sind die Verbindungen zu den europäischen Metropolitanräumen, die Landesflughäfen und die nationalen Bildungs-, Forschungs- und Gesundheitseinrichtungen. Und ganz zentral: Es gibt eine neue Aufgabe: Die Folgen der Klimakrise für die Schweiz. Dafür muss der Bund seinen verfassungsrechtlichen Spielraum gegenüber den Kantonen bis zur Schmerzgrenze ausnutzen. In Balance zum Gewicht der Regionen hat das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) die Herausforderungen der nationalen Raumplanung und ihre Verantwortlichen zu benennen und dazu klare Aussagen und verbindliche Vorgaben zu machen. Die ARE-Direktorin, die Delegierte für die Zukunft Schweiz, muss die 20 Vollkantone und 6 Halbkantone mit ihren eigenen Raum-Interessen und ihrer mächtigen Raum-Politik zu einer gemeinsamen, wirkungsvollen Raumstrategie des Landes führen. Zudem hat das ARE für den Ausgleich der Lebensverhältnisse in den unterschiedlichen Räumen zu sorgen. Ungleichgewichte zwischen Räumen und Menschen sowie eine nicht nachhaltige Entwicklung untergraben eine gute Zukunft für alle Menschen, Orte und Gemeinschaften.
Hans-Georg Bächtold war bis 2018 Geschäftsführer des Schweizerischen Ingenieurs- und Architektenvereins SIA. Gemeinsam mit Köbi Gantenbein hat er das Buch «Agenda Raum Schweiz» herausgegeben.
3. Eine Denkwerkstatt Raumentwicklung einsetzen Das ARE setzt eine Denkwerkstatt mit den hellsten Köpfen aus Soziologie, Wirtschaft, Ethik und Naturwissenschaften ein. Diese beobachtet laufend die gesellschaftlichen Trends, entscheidet, ob es «Megatrends» und ob sie nachhaltig sind, und schlägt griffige Massnahmen vor. Ein Fokus muss auf der raumbezogenen Interpretation der Prognosen, insbesondere der Bevölkerungsprognosen, und bei der Beurteilung der Bevölkerungsentwicklung liegen. Diese Denkwerkstatt bietet eine gute Handreichung für die Raumplanung in den Kantonen und in der Stadtentwicklung. Der schon lange bestehende Rat für Raumordnung berät mit diesen Erkenntnissen den Bundesrat. Er soll Anträge stellen können, die in der Verwaltung und im politischen Prozess wirkungsmächtig sind. 4. Klare Ziele für den Lebensraum Schweiz Als Grundlage braucht die neue Raumentwicklungsstrategie Konsens über die Ziele. Der Bund hat hier eine Führungsaufgabe. Als Ziele sind zu setzen: Vorrang der Biodiversität auf einem Drittel der Flächen, Netto-Null-Verbrauch der Siedlungsfläche, Klimaschutz und Gleichwertigkeit der Lebensräume – im Mittelland, Tessin, Jura und im Alpenbogen. Bauen und Gestalten im und mit dem Bestand, Landschaften schützen ohne weitere Bauten ausserhalb der Bauzonen sowie die Infrastrukturen bündeln sind die konkreten Massstäbe für das künftige räumliche Denken und Handeln. Sie werden die Messlatten für die Genehmigungen der rasch zu ergänzenden kantonalen Richtpläne durch den Bundesrat. Im Ergebnis sollen Perspektiven für alle Kantone vorliegen, die die regionalen Disparitäten verkleinern und die Ränder zu Lasten der Zentren stärken. 5. Mittel bereitstellen Neben klaren Zielen braucht es Geld. Absichten genügen nicht. Zentrales Werkzeug einer revidierten Raumstrategie sind durch den Bund finanzierte Pilot-Projekte. Die Agglomerationsprogramme haben den Erfolg dieses Vorgehens bewiesen. Raumplanung muss in der Masse und Menge wirksam werden und so die Bevölkerung überzeugen und sich nicht an einzelnen Leuchttürmen erhellen. Das Dilemma können wir in den Leserbriefspalten der Zeitungen lesen: Die Menschen haben einen anderen Lebenstraum als es die raumplanerischen Utopien wie Verdichtung und kompakte Siedlungen ohne Parkplätze glauben machen wollen. Es gibt in den Raumplanungsbüros, an der ETH und den Fachhochschulen, in den Ämtern von Städten, Kantonen und im Bund viel Wissen über Planung und viele kluge Männer und Frauen. Sie sind als Autorinnen und Mitdenker einer neuen Raumstrategie zu gewinnen. Je dichter das Land besiedelt und genutzt wird, umso mehr wird Raumplanung zu einem kontroversen Thema. Fachlich besteht Konsens, dass neben der Erarbeitung einer Lebensraumstrategie Schweiz und dem Aufbau einer Raumbeobachtung auch die räumliche Planung insgesamt gestärkt werden muss – inklusive der Raum- und Planungsforschung und der Vermittlung an die Menschen. Darin sehen beide Autoren die riesige Chance in der Konzeption einer neuen Landesplanung.