«Alle Gemeinden haben Stress wegen des Bevölkerungswachstums»
Die Raumplanung ignoriere die wachsende Bevölkerung, sagt Christoph Niederberger, Direktor des Gemeindeverbands. Darüber zu sprechen sei ein Tabu, dabei seien die Folgen schon überall sichtbar. Gemeinden werden je länger je mehr bei wichtigen Entscheiden übergangen.
Herr Niederberger, wie geht es den Schweizer Gemeinden?
Finanziell geht es ihnen nach Corona und trotzt der Energiekrise sehr gut. Die Schweizer Wirtschaft ist stabil, und das wirkt sich auch auf den kommunalen Finanzhaushalt aus. Die Arbeitslosigkeit ist gering, die Sozialhilfequote auf einem Rekordtief. Allerdings werden die Gemeinden je länger je mehr mit zusätzlichen Aufgaben belastet. Das macht mir Sorgen. Man erwartet heute zu viel von einer Staatsebene, die nach dem Milizprinzip funktioniert. Sie wird vor allem bei der grössten Herausforderung unsers Landes im Stich gelassen.
Das wäre?
Das Bevölkerungswachstum. Alle Gemeinden haben Stress deswegen. Der Raum wird knapp. Gleichzeitig verlangt das revidierte Raumplanungsgesetz RPG1, dass wir verdichten. Aber sehen Sie, die erste Reform des Raumplanungsgesetzes 2013 ging von einer Bevölkerung von 8 Millionen Menschen aus. Jetzt sind wir bald bei 9 Millionen. Das geht doch nicht mehr auf. Wir haben eine falsche Planungsbasis, aber niemand spricht es an. Das Bevölkerungswachstum ist ein Tabu in der Raumentwicklung, im Übrigen auch im Raumkonzept Schweiz. Dabei sehen wir die Folgen überall. Wo zum Beispiel?
Ich war kürzlich in Schlieren im Limmattal. Was dort entstanden ist in den letzten Jahren, ist extrem. Sehr viel Wohnraum für sehr viele Menschen. Früher wollte niemand dorthin, jetzt wollen alle dort investieren. Aber es stellt sich die Frage: Soll die Schweiz am Ende überall so aussehen wie das Limmattal? Und diese Frage hat viel mit dem Bevölkerungswachstum zu tun.
«Die Idee von den reichen Städten und dem armen Land ist heute überholt.»
Der diplomierte Forstingenieur ETH arbeitete nach einer Laufbahn als Journalist unter anderem als Geschäftsführer der CVP Schweiz und als Generalsekretär der Konferenz der Kantonalen Volkswirtschaftsdirektoren. Seit 2018 ist er Direktor des Schweizerischen Gemeindeverbands SGV.
Sie sind kein Freund des Raumkonzepts...
Doch, ich beklage nur, dass das Thema Wachstum zu wenig berücksichtigt wird. Wie gehen wir mit dieser grösser werdenden Schweiz um? Mit dieser Frage müssen wir uns beschäftigen, um glaubwürdig zu sein. Aber ich gebe zu, ich war zuerst ein grosser Kritiker des Raumkonzepts. Man hat vor zehn Jahren beim ersten Raumkonzept stark segregiert und Gebiete als alpine Brachen und Entwicklungsgebiete bezeichnet und so quasi von einer Entwicklung ausgeschlossen. Was mich mittlerweile überzeugt hat, ist die Idee des Raumkonzepts, dass man nicht überall alles machen kann. Man muss die Potenziale der einzelnen Gebiete ausschöpfen. Die Idee von den reichen Städten und dem armen Land ist heute sowieso überholt.
Inwiefern?
Die Schweiz ist in den letzten zehn Jahren zusammengerückt. Probleme wie Wohnungsknappheit gab es früher nur in städtischen Gemeinden, heute findet sie auch in ländlichen Räumen und Berggebieten statt. Andererseits geht es auch den ländlichen Gemeinden wirtschaftlich sehr gut. Es gibt in der Schweiz praktisch keine abgehängten Regionen. Fast überall fand irgendwie wirtschaftliches Wachstum statt. Das hat mit dem Raumkonzept zwar wenig zu tun, sondern mit grossen Themen wie Personenfreizügigkeit und globale Konjunktur. Was ist den Gemeinden bei der Aktualisierung des Raumkonzepts wichtig?
Dass man die Arbeit gemeinsam macht, alle drei Staatsebenen auf Augenhöhe. Wichtig ist auch, dass wir nicht alles auf den Kopf stellen, sondern eine Teilrevision durchführen.
«Wir sind auf keiner guten Spur, wenn man zunehmend Entscheide am Volk vorbei fällt.»
Brauchen die Gemeinden mehr Handlungsspielraum in der Raumentwicklung?
Nein, das nicht unbedingt. Die Gemeinden haben heute ihren Handlungsspielraum. Wie gross der ist, hängt zwar vom jeweiligen Kanton ab. Grob gesagt sind die Gemeinden im Osten sehr selbständig. Je weiter westlich man geht, desto mehr werden sie zu Vollzugseinheiten der Kantone. Aber jede Gemeinde kann sich heute ein Gesicht geben. Sie muss sich nur bewusst sein, dass sie nicht alles sein kann: Wirtschaftsstandort, Bildungsstandort und auch noch Sportzentrum. Gemeinden sind heute Teil eines grösseren Raumes und müssen darin ihre Rolle definieren. Gerade im Limmattal etwa haben sich die Gemeinden zusammengetan, und jede versucht sich eine Identität zu geben, abgestimmt auf die anderen. Das geht nur über die Raumplanung. Mich stört hingegen etwas anderes, nämlich dass die Bevölkerung vom Bund je länger je mehr übergangen wird. Wie meinen Sie das?
Bisher war es in der Schweiz so, dass man die wichtigen Entscheide am richtigen Ort fällt. Die räumliche Entwicklung der Gemeinden war Sache der Gemeinden selbst. Man entschied darüber an Gemeindeversammlungen oder über eine kommunale Volksabstimmung. In jüngster Zeit aber werden grosse Solar- und Windkraftanlagen geplant, wo man gerade will. Grosse Kraftwerke sind im nationalen Interesse und sollen die Stromversorgung sichern.
Das sehe ich, aber wir sind auf keiner guten Spur, wenn man zunehmend Entscheide am Volk vorbei fällt. Man kann die Befürchtungen der Bevölkerung nicht einfach übergehen. Wenn es so weitergeht, brauchen wir kein Raumkonzept. Dann geht es nur noch darum, wer der Stärkere ist. Jetzt übertreiben Sie. Die Kantone müssen bei Energieanlagen die Gemeinden in den Planungsprozess einbeziehen.
Ich kenne andere Fälle. Eine Gemeinde im Kanton Zürich zum Beispiel wollte ein Gipfelkreuz auf einer Anhöhe aufstellen. Der Kanton hat es verboten. Am beinahe selben Ort plant der Kanton jetzt Windräder. Für eine Gemeindebehörde ist das nicht nachvollziehbar. Und es schadet der Glaubwürdigkeit des staatlichen Handelns.
Das ist eine Schweiz, in der keine Region abgehängt wird und in der die gesellschaftliche Durchmischung überall stattfinden kann. Die Gesellschaft sollte nicht auseinanderdriften. Segregation und Suburbs wie in anderen Ländern darf es in der Schweiz nicht geben; leider gibt es auch Tendenzen bei uns. Die Energiewende zum Beispiel ist bislang vor allem etwas für die Privilegierten. Der einfache Büezer steht quasi mit leeren Händen da. Er hat ja kein eigenes Haus, das er mit einer Ladestation für Elektroautos oder mit Solarzellen ausstatten könnte, um seinen eigenen Energiehaushalt zu optimieren. Meine Schweiz der Zukunft ist auch eine qualitativ gebaute Schweiz. Bisher wurde vor allem quantitativ gewachsen, mehr Qualität und Baukultur wäre besser. Das heisst etwa: Weniger Lidl-Lagerhallen, mehr durchmischter Arbeits- und Wohnraum. Eine zugebaute Schweiz hat keine Zukunft.