«Ich hatte einen Traum...»
Ein Plan für die Klimatauglichkeit der Schweiz und die Bewältigung des Bevölkerungswachstums. Und nicht nur Fachleute, sondern auch Bürgerinnen und Bürgern diskutieren dabei mit. Wenn es ums Raumkonzept geht, kommt der Direktor von EspaceSuisse ins Träumen.
Endlich in Bern. Es ist bereits 9.05 Uhr. Der Zug aus Brig hatte schon wieder Verspätung. Die Medienkonferenz zum Raumkonzept Schweiz wurde auf 9 Uhr angekündigt. Ich muss mich also beeilen, um zum Haus der Kantone zu gelangen. Auf dem Weg höre ich nochmals die Sprachnachricht mit der Einladung ab, die an alle Interessierten gesandt wurde: Nach fünfjähriger Arbeit soll heute das neue Raumkonzept Schweiz vorgestellt werden. Treffpunkt ist die Kreuzung vor dem Haus der Kantone. Komisch. Was wohl dahinter steckt? Gleich bin ich da. Und ich bin nicht der Einzige. Fast hundert Personen haben sich auf der Kreuzung eingefunden. Zum Glück konnte die Stadt Bern vor zwei Jahren den Verkehr dank einer klugen Lösung grösstenteils aus der Stadt verbannen. Vor fünf Jahren, im Jahr 2023, wäre ein solcher Anlass hier nicht vorstellbar gewesen.
Damian Jerjen ist Direktor von EspaceSuisse, dem Schweizer Verband für Raumplanung.
Heute ist nichts mehr von den asphaltierten Strassen zu sehen. Die Kreuzung präsentiert sich als attraktive Begegnungszone mit viel Grünfläche. Und die Kirschbäume stehen in voller Blüte. Ich schaue mich noch ein bisschen um und frage mich, wieso alle ihre Smartphones auf die Gebäudefassade richten.
Jetzt sehe ich es auch, das graphische Symbol, ein QR-Code, der auf die Sandsteinmauer des geschichtsträchtigen Gebäudes projiziert wird. Das Haus der Kantone wurde 1893 als Sitz des Eidgenössischen Telegraphen- und Patentamtes eingeweiht. Sogar Albert Einstein hatte hier eine Zeitlang seinen Arbeitsplatz, just zur Zeit als er die Relativitätstheorie veröffentlichte. Später wurde das Gebäude von der Generaldirektion der Post-, Telefon- und Telegrafenbetriebe (PTT) und dann von der Swisscom benutzt. Heute beherbergt das Gebäude verschiedene Kantonskonferenzen. Ob der QR-Code etwas mit der Vergangenheit zu tun hat? Oder mit einem Geniestreich für die Zukunft? Auch ich zücke mein Smartphone und halte es auf den Code. Sofort gelange ich auf eine Webseite. In weisser Schrift steht da auf rotem Hintergrund: Raumkonzept Schweiz 2.0.
«Grenzen existieren im neuen Raumkonzept nicht. Weder die Gemeinden noch die Kantone sind auf den ersten Blick erkennbar»
Zwei Stunden später. Ich sitze wieder im Zug, lasse die Eindrücke der Medienkonferenz auf mich wirken. Das war ziemlich gut gemacht. Die Präsidentin der Konferenz der Kantonsregierungen leitete die Informationsveranstaltung zum aktualisierten Raumkonzept, neben ihr die Präsidentin der Kantonsplanerinnenkonferenz. Die beiden wurden auf einer Seite vom Vorsteher des UVEK und der Direktorin des Bundesamtes für Raumentwicklung, auf der anderen Seite vom Präsidenten des Städteverbands und dem Präsidenten des Gemeindeverbands mit ihren Direktoren flankiert.
Eigentlich hat die tripartite Konferenz in den letzten Jahren ja nicht «nur» an einer Aktualisierung gearbeitet. Nein, das Raumkonzept Schweiz wurde komplett überarbeitet. 2023 wurde entschieden, die Projektleitung der KPK zu übergeben.
Ein wichtiger Entscheid. Schliesslich haben die Kantone seit 2012 immer wieder mit dem Raumkonzept Schweiz gearbeitet, dieses in ihre eigenen Raumkonzepte und Richtpläne integriert und Terrainerfahrungen bei der Umsetzung in den verschiedenen Handlungsräumen gesammelt. Die Kantone mit ihren Richtplänen bilden das eigentliche Herz der Schweizer Raumplanung und sind auch bei der Umsetzung des Bundesgesetzes über die Raumplanung an der Schnittstelle zwischen Bund, Gemeinden und Städten. Die Kantonsplanerinnen und Kantonsplaner haben «Schmutz an den Händen» von der täglichen Arbeit vor Ort, und praktisch alle haben in den letzten Jahren ihre Richtpläne gesamthaft überarbeitet. Mit diesen Erfahrungen brachten sie durchaus die Voraussetzungen mit, bei der Aktualisierung des Raumkonzeptes Schweiz in den Lead zu gehen.
Der Umfang des Konzeptes wurde massiv reduziert. Auch wenn das nicht wirklich auffällt, weil das Konzept ausschliesslich digital existiert und weder als pdf noch als Broschüre verfügbar ist. Die Zeichenzahl wurde halbiert. Anstelle der bisherigen 62 Seiten des Teils A umfasst das Konzept noch 30 Seiten. Teil B zu den Handlungsräumen wurde ganz weggelassen.
Dafür gibt es tolle interaktive Karten. Was dort auffällt: Grenzen existieren nicht. Weder die Gemeinden noch die Kantone sind auf den ersten Blick erkennbar. Auch die Landesgrenzen sind nur dank den bekannten topografischen Elementen mehr oder weniger nachvollziehbar.
«Das Mutigste am Raumkonzept Schweiz 2.0 war vermutlich, die politische Ebene erst am Schluss ins Boot zu holen»
Auch inhaltlich ist das Raumkonzept Schweiz 2.0 ein Meilenstein. Anstatt der bisherigen etwas schwammigen Leitidee mit dem Dreiklang «Vielfalt, Solidarität und Wettbewerbsfähigkeit», den fünf Zielen, den drei Strategien und zwölf Handlungsräumen kommt das Konzept deutlich einfacher daher als bisher. Am Anfang stehen zwei Begriffe – Klimatauglichkeit und Bevölkerungswachstum – sowie eine Frage: Wie können wir unseren Raum angesichts des zu erwartenden Bevölkerungswachstums zukunftsfähig gestalten, um ihn möglichst gut auf die unvermeidbaren Folgen des Klimawandels anzupassen und einen maximalen Beitrag zum Schutz des Klimas und der Biodiversität zu leisten?
Gedacht wird die klimataugliche 12-Millionen-Schweiz. Diese ist möglich, bedarf jedoch einer Transformation auf verschiedenen Ebenen. Das Konzept zeigt, wie sie umgesetzt werden kann. Verschiedene Bereiche werden beschrieben: Siedlung, Mobilität, Infrastruktur, Natur und Landschaft, Energie und Versorgung, Untergrund. Jeder Bereich wird auf die zwei übergeordneten Vorgaben ausgerichtet: Klimatauglichkeit und Bevölkerungswachstum. Das Mutigste am Raumkonzept Schweiz 2.0 war vermutlich, die politische Ebene erst am Schluss ins Boot zu holen. Das Projektteam – bestehend aus Vertreterinnen und Vertreter der drei staatlichen Ebenen – hatte die Grundlage erarbeitet. Ein eigens dafür eingesetzter Bürgerrat diskutierte sie breit während zwei Jahren. Schliesslich spiegelte sie auch noch eine Begleitgruppe aus Wissenschaftlerinnen, Vertretern von Verbänden und Unternehmen. Auch die Jugend konnte mitreden und wurde eigens miteinbezogen. Das aufgrund dieser Diskussionen überarbeitete Konzept überzeugte die politische Ebene dermassen, dass keine inhaltlichen Änderungen mehr vorgenommen wurden. Im Gegenteil – Bund, Kantone, Gemeinden und Städte erklärten das Konzept als verbindlich.
Ein lautes Geräusch reisst mich aus meinen Gedanken. Mein Smartphone klingelt. Wer wohl anruft? Es dauert eine Weile, bis ich richtig erwache und merke, dass es sich nicht um einen Anruf handelt, sondern um meinen Wecker. Es ist sechs Uhr morgens am 5. April 2023. Es ist Zeit aufzustehen und den Zug nach Bern zu nehmen ...