Was die Schweiz von den Niederlanden lernen kann
Die Aktualisierung des Raumkonzepts ist wichtig, aber es braucht innovativere Ansätze und eine breitere Beteiligung von Fachleuten, schreibt die Raumplanerin Marianne Gatti. Das niederländische Konzept könnte ein Vorbild dafür sein.
Das Raumkonzept Schweiz ist für mich eines der spannendsten Dokumente der Schweizer Raumplanung, denn nur im Raumkonzept wird die Schweiz aus planerischer Sicht als Ganzes betrachtet. Eine nationale Betrachtung bietet einerseits die Möglichkeit, aus strategischer Sicht zu fragen, was die tragende Raumstruktur der Schweiz bildet. Andererseits stellt sich die Frage, welche Qualitäten die unterschiedlichen Regionen der Schweiz aufweisen und welchen Beitrag sie als Teil des Ganzen leisten.
Marianne Gatti ist Teamleiterin für Regionale Strategien und Energie im Büro berchtoldkrass space&option in Karlsruhe. Nach ihrem Masterabschluss in Raumentwicklung an der ETH Zürich war sie in der Schweizer Planungspraxis und an der ETH Zürich tätig. Anschliessend hat sie in den Niederlanden an der Schnittstelle zwischen Energie-, Stadt- und Raumplanung gearbeitet.
Leider zeigen die Karten im Raumkonzept diese beiden Aspekte ungenügend. Die Karten wirken zweidimensional, und ich vermisse die Inhalte, die diese «Materialität» des Raumes spürbar und greifbar machen lassen. Der inhaltliche Prozess der Aktualisierung des Raumkonzepts zwischen April und September 2023 schien mir auch viel zu kurz, um in dieser Hinsicht neue Wege zu gehen. Vor allem aber kam der Prozess – wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf – eher trocken daher: Das Raumkonzept wird ausschliesslich durch unsere staatlichen Institutionen erarbeitet: Kantone, Gemeinden und Bund. Aus meiner persönlichen Arbeitserfahrung in den Niederlanden möchte ich drei Aspekte ausführen, die das Raumkonzept stärker, zukunftsweisender und interessanter machen könnten. Dafür muss ich als erstes das niederländische Konzept «ontwerpend onderzoek» erläutern. Der Begriff lässt sich ins Englische mit «Research by Design» übersetzen. Ins Deutsche ist die Übersetzung um einiges schwieriger. Grundsätzlich geht es darum, das Entwerfen – auf allen Massstabsebenen vom Haus, über das Quartier, zur Stadt, zur Region bis zum ganzen Land – als Erkundungsaufgabe mit viel Raum zum Experimentieren zu verstehen. Dieser Prozess hat nicht zum Ziel, ein fertiges Produkt zu generieren, welches sich in eine Reihe formeller Planungsprozesse einzugliedern hat, sondern lässt einen Spielraum von möglichen räumlichen Ideen offen. Dadurch können bisher nicht gedachte Zusammenhänge und unkonventionelle Wege gezeigt werden, die auch provozieren und somit neue inhaltliche Debatten starten. Dabei sind folgende Aspekte von Research by Design besonders relevant für die Revision des Raumkonzepts: 1. Die Entwurfskraft der Bürowelt einsetzen Erdacht, entworfen, getestet und gezeichnet werden die Research-by-Design-Ideen von den Raumplanungs-, Landschaftsarchitektur- und Stadtplanungsbüros aus der Privatwirtschaft. Sie schaffen durch diese Arbeitsweise einen inspirierenden Fundus an Ideen. Dieser fördert in den Niederlanden seit langer Zeit ein vertieftes Verständnis der räumlichen Herausforderungen und Aufgaben. Gleichzeitig werden durch Research by Design Möglichkeiten aus unterschiedlichen und wenig alltäglichen Blickwinkeln gezeigt. Durch diese konstante Auseinandersetzung der Planenden mit den Herausforderungen der Zeit, wird ein aktiver und vielfältiger Planungsdiskurs mit grosser Fachexpertise geschaffen. Ich sehe enormes Potenzial in einem solchen Prozess, um die Überarbeitung des Raumkonzepts Schweiz zu unterstützen. Dadurch kommen nicht nur die Sichtweisen und Ideen der Verwaltung zum Tragen, sondern auch die Vielzahl an Sichtweisen und Ideen der tagtäglich entwerfenden und planenden Praktikerinnen und Praktiker. 2. Fördertöpfe für Research by Design Programme Research by Design ist in den Niederlanden nicht das Spielfeld von realitätsfremden Planenden, sondern spielt eine zentrale Rolle in einem gross angelegten Prozess zur Erarbeitung eines nationalen Planungsdokuments, der «Nota ruimte. Diese kann man sich als umfassendere Version des Raumkonzepts Schweiz vorstellen. Parallel zum Erarbeitungsprozess dieses zentralen Dokuments läuft das Programm «Mooi Nederland» (auf Deutsch: schöne Niederlande). Es organisiert und finanziert Research by Design in unterschiedlichen Themenbereichen, von Stadtentwicklung über die Entwicklung ländlicher Gebiete bis zur Energie- und Mobilitätswende und der Zukunft der Landwirtschaft. Dabei wird argumentiert, dass diese unterschiedlichen entwerfenden Arbeiten eine Wissensbasis generieren, die hilft, die Fragen der Raumentwicklung zu identifizieren und besser zu verstehen. Damit werden die Knackpunkte der räumlichen Entwicklung identifiziert, auf welche die «Nota ruimte» Antworten geben soll. Die Revision des Raumkonzepts könnte von einem ähnlichen Förderprogramm nur profitieren. Es braucht mehr Mittel und Zeit, um eine Wissensbasis mithilfe von Research by Design aufzubauen, die den Schweizer Planungsdiskurs erweitern und differenzieren könnte. Geschärft mit neuen Ansichten, Ideen und Denklogiken, die nicht nur über Monate, sondern Jahre entwickelt wurden, könnte die Revision des Raumkonzepts mit frischem Blick starten. 3. Energie als thematischer Fokus von Research by Design Mehrere grosse Transitionen stehen vor der Tür: der Umbau zu einer zirkulären Wirtschaft, die Mobilitätswende, die landwirtschaftliche Transformation sowie die Energiewende. Dass die Energiewende eine hoch räumliche Transition ist – und eben nicht ein rein technisches Unterfangen, das durch das Setzen quantitativ definierter politischer Ziele gelöst werden kann –, scheint noch kaum in den Köpfen der Menschen angekommen zu sein. Weder in der Politik und in der Bevölkerung noch bei den Planenden. Research by Design eröffnet uns die Möglichkeit, den Zusammenhang zwischen der Raumplanung und der Umsetzung der Energiewende zu zeigen und vor allem auch zu testen. Im Rahmen der Erarbeitung der «Nota ruimte» wurden für unterschiedliche Themen nationale Zukunftsszenarien erarbeitet. Eines dieser Szenarien wurde dem Thema Energie gewidmet. Dazu wurde die Komplexität des Umbaus des Energiesystems von einem fossilen zu einem erneuerbaren System unter Einbezug nicht nur der Produktionsstandorte, sondern auch des Energietransports, der Energieumwandlung, der Energiespeicherung sowie des Energieverbrauchers mitgedacht. Ziel war es, auf Basis dieses systemischen Designs begrenzende Faktoren des Raumes auf das Energiesystem – und umgekehrt – zu identifizieren sowie qualitativ-räumliche Aussagen zu Veränderungen innerhalb des bebauten Raumes zu machen. Das Raumkonzept Schweiz muss räumliche Aussagen zur Dimension Energie machen. Dazu gehört das Zeigen von räumlichen und technischen Abhängigkeiten innerhalb des Energiesystems als Grundlage für Entscheide zum Energiesystem der Zukunft. Basierend darauf könnten räumlich clevere Lösungen zum zukünftigen Energiesystem der Schweiz erstmals aus raumplanerischer Sicht gezeigt werden. Durch Research by Design, gefördert und in Auftrag gegeben vom Bund, den Kantonen und Gemeinden, könnte eine Vielfalt an räumlich getesteten Ideen in unseren Planungsdiskurs einfliessen und zu einer wichtigen Grundlage für das Raumkonzept Schweiz werden. Dafür müssen wir uns aber von der Notwendigkeit von allzeit amtsstubentauglichen Diskussionen, Prozessen und Aufträgen verabschieden. Es braucht mehr Mut für unkonventionelle Prozesse und Aufträge, die alternative Ideen zulassen und ungewohnte Ansätze durch räumliches Denken und Testen auf den Prüfstand stellen.