«Die Realität ist urban»
Die nationale Politik habe ländliche Bilder im Kopf, sagt Martin Flügel, Direktor des Städteverbands. Daher würden die Anliegen der Städte und Agglomerationen oft zu wenig berücksichtigt. Er wünscht sich eine positivere Haltung gegenüber dem Wachstum und gegenüber den Städten, die dieses Wachstum bewältigen.
Martin Flügel, während der Corona-Pandemie war von der Stadtflucht die Rede. Menschen suchten sich Wohnraum auf dem Land. Haben sich die Städte tatsächlich geleert?
Überhaupt nicht. Es gab eine kleine Delle in der Bevölkerungsentwicklung der Städte, aber das ist bereits vorbei. Es kann sein, dass die Preisentwicklung auf dem Wohnungsmarkt das weitere Wachstum der Städte etwas bremst. Aber es wird nicht dazu führen, dass die Menschen im grossen Ausmass aus den Städten wegziehen.
Martin Flügel ist seit 2021 Direktor des Schweizerischen Städteverbands (SSV). Er hat Philosophie und Volkswirtschaft an der Universität Bern studiert. Vor seiner Tätigkeit beim SSV war er für Caritas und Travail.Suisse in leitender Position tätig.
Die Städte haben also nach wie vor eine grosse Anziehungskraft. Wieso?
Um das richtig einzuordnen, muss man sich an den Ruf der Städte vor 30 Jahren erinnern. Man sprach von den A-Städten als Problemzone, wo Arme, Arbeitslose, Alte und Ausländer leben. Im Vergleich dazu geht es den Städten heute ausgezeichnet. Die urbane Transformation schreitet voran, sie ist aber nicht vom Himmel gefallen. Die Städte machen viel dafür, dass sie attraktiv sind, und zwar nicht nur für die Wohnbevölkerung. Sie haben in dieser Zeit auch viele Arbeitsplätze geschaffen. Sie haben ihre Hausaufgaben gemacht. Was waren denn diese Hausaufgaben?
Die Steigerung der Lebens- und Aufenthaltsqualität. Viele Städte haben zum Beispiel den Autoverkehr in den Innenstädten und Wohnquartieren reduziert und attraktive Plätze und Strassen ermöglicht. Oder sie haben alte Industriebrachen entwickelt und damit Räume zum Leben und Arbeiten geschaffen. Sie wurden also nicht beliebt, weil sie gespart und Steuern gesenkt, sondern indem sie an den richtigen Orten investiert und damit die Lebensqualität gesteigert haben. Das gilt nicht nur für die grossen Städte wie Zürich, Lausanne oder Basel, sondern auch für kleinere Städte wie Thun, Aarau und Lugano. Wichtig ist, dass dieser Impuls weitergeht. An den Rändern der Städte gibt es durchaus noch Gebiete, in denen die Lebensqualität gesteigert werden muss. Die wirtschaftliche Bedeutung der Städte ist unbestritten. Wie steht es mit dem politischen Gewicht?
Die Städte würden gerne mehr politische Aufgaben wahrnehmen, werden aber häufig von den übergeordneten Ebenen gebremst. Beispielsweise wünschen sich die Städte mehr Gestaltungsfreiheit im Verkehrs- oder Energiebereich. Aber in der Regel sind diese Bereiche kantonal geregelt. Und auf Kantonsebene herrschen oft andere politische Mehrheiten als in den Städten. Und auf Bundesebene?
Die nationale Politik hat vor allem bestimmte ländliche Bilder im Kopf. Die Schweiz ist aber in weiten Teilen progressiv und globalisiert, die Realität ist urban. Drei Viertel der Bevölkerung leben in Städten Wie äussern sich die ländlichen Bilder in den Köpfen konkret?
Nehmen wir die Energiepolitik. Die Förderung des Solarstroms war bisher stark auf den Eigenverbrauch ausgerichtet. Wer hat Eigenverbrauch? Der Einfamilienhausbesitzer auf dem Land. Die allermeisten Menschen in den Städten wohnen in einer Mietwohnung und profitieren nicht von Eigenverbrauch. Auch der Vermieter hat keinen Anreiz, eine Solaranlage zu bauen, von der dann die Mieter und Mieterinnen profitieren. Ein anderes Beispiel: Viele Kantone fördern mit viel Geld Wärmepumpen, aber in der Stadt braucht es keine Wärmepumpen, sondern Fernwärme-Netze. Solche Netze bauen die Städte und sie bezahlen sie selbst. Von der nationalen Politik kommt da wenig. Trifft dieser ländliche Blick auch auf die Raumplanung zu?
Raumplanung ist Sache der Kantone, und viele Kantone sind ländlich dominiert. Daher ist hinter vielen Entscheiden der Raumplanungspolitik, auch auf Bundesebene, die Perspektive einer bestimmten ländlichen Schweiz erkennbar. So wurden etwa im Parlament beim Mehrwertausgleich Einschränkungen beschlossen, die den Anliegen der Städte und Agglomerationen nicht gerecht werden. Was sind die grossen raumplanerischen Herausforderungen für die Städte?
Das ganz grosse Thema ist das Bevölkerungswachstum. Es ist die Herausforderung der Städte, dieses Wachstums möglichst gut zu absorbieren. Dabei geht es darum, die Innenentwicklung in all ihren Dimensionen, ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltig zu gestalten. Der sorgfältige und kreative Umgang mit dem Bestand ist zentral. Zudem sage ich bewusst, das Wachstum absorbieren - nicht bremsen oder gar stoppen. Dass die Schweiz wächst, zeigt, dass wir in einem hoch attraktiven Raum leben. Das Wachstum zu stoppen kann für die Schweiz kein Ziel sein. Das wäre verheerend. Moment, wieso verheerend? Weshalb soll man das Bevölkerungswachstum nicht stoppen oder zumindest bremsen?
Das Wachstum steht für unsere Attraktivität. Es zu bremsen oder gar zu stoppen kann nur gelingen, wenn wir die Attraktivität der Schweiz als Lebens- und Wirtschaftsraum nachhaltig beschädigen. Wer das wirklich will, soll bitte vortreten. Zudem stehen wir vor der Situation, dass eine grosse Generation aus dem Arbeitsprozess ausscheidet. Wenn keine neuen Arbeitskräfte nachkommen, haben wir viele Probleme – in den Städten und auch anderswo. Diese Arbeitskräfte fehlen in der Schule, im Gesundheitswesen, auf dem Bau und mit der Zeit überall. Wenn wir das nicht kompensieren, leidet nicht nur unser Wohlstand, sondern unsere Lebensqualität allgemein. Allein schon dafür benötig es ein gewisses Bevölkerungswachstum. Wir sollten zum Wachstum eine positive Haltung haben und damit auch die wichtige Rolle der Städte anerkennen, die dieses Wachstum bewältigen. Das Raumkonzept wird derzeit aktualisiert. Was erwarten die Städte davon?
Eine positive Darstellung von Urbanität, denn Urbanität prägt die Schweiz. Das Raumkonzept hat zwar auf den Handlungsspielraum der Städte wenig Einfluss, aber es kann die Bedeutung des urbanen Raums für die Schweiz zeigen. Auch wer auf dem Land lebt, ist innerhalb von kürzester Zeit in einer Stadt. Und die meisten Menschen auf dem Land schätzen das, sei es für die Arbeit, das Einkaufen, die Gesundheitsversorgung oder den Ausgang. Mit Stadt meine ich übrigens nicht nur die grossen Städte. Der Städteverband hat 132 Mitglieder. Auch viele Agglomerationsgemeinden wie Ostermundigen, Riehen und Köniz, Vilars-sur-Glâne oder Renens sind Mitglied. Etwas Positives hat die Aktualisierung des Raumkonzept übrigens schon jetzt bewirkt. Was denn?
Die Aktualisierung erfolgt in einer tripartiten Zusammenarbeit, wie man sie selten sieht. Alle drei Staatsebenen sind gleichwertig beteiligt, bringen sich ein und entscheiden dann auch alle. Wir arbeiten immer wieder an Projekten mit, haben aber meistens am Ende nichts zum Resultat zu sagen, weil in der Verwaltung oder im Parlament entschieden wird. Das ist hier anders: Jede Staatsebene entscheidet mit dem gleichen Gewicht – und zwar in allen Phasen und bis zum Abschluss des Projektes. Ein solches Vorgehen würden wir uns generell mehr wünschen, auch in anderen Politbereichen.
Meine zukünftige Schweiz ist eine Schweiz, die möglichst allen Menschen eine hohe Lebensqualität bietet. Jede Bewohnerin und jeder Bewohner soll möglichst so leben können, wie sie oder er es möchte, sei es auf dem Land oder in der Stadt. Die Schweiz wird in 25 Jahren urbaner aussehen. Aber diese Veränderung muss auch in den Köpfen stattfinden. Ich wünsche mir mehr Verständnis und Anerkennung – auf beiden Seiten. Sowohl in der Stadt als auch auf dem Land wird nicht immer wahrgenommen, dass das Leben unterschiedlich sein kann, je nachdem, wo man wohnt. In meiner Schweiz der Zukunft gibt es ein gemeinsames Verständnis der Lebensrealitäten und eine hohe gegenseitige Akzeptanz.