Eine Vision für den Grossraum Genf
Die Kantone Genf und Waadt haben ein gemeinsames Projekt gestartet, um auf den ökologischen Wandel zu reagieren: Die Vision territoriale transfrontalière 2050. Sie könnte ein Impuls sein für das aktualisierte Raumkonzept Schweiz.
Die Agglomeration Genf steht vor einer doppelten Herausforderung: Zum einen muss sie den Raum sparsam nutzen und dabei das Bevölkerungswachstum in der Schweiz berücksichtigen. Zum anderen zwingt sie der ökologische Wandel dazu, diesem Geschehen auf eine neue Weise zu begegnen. Die Eigenheiten der Regionen, ihre geografische Lage und ihre Erreichbarkeit bestimmen dabei massgeblich, wie sie mit diesem Bevölkerungsanstieg umgeht und wie er sich auf den Raum auswirkt. Eines gilt für alle ihre Regionen: Die Massnahmen müssen auf die örtlichen Gegebenheiten abgestimmt und in der Bevölkerung breit abgestützt sein. Nur so können wir hoffen, unseren Verpflichtungen für die Umwelt rechtzeitig nachzukommen. Solche Massnahmen lassen sich durch Anpassungen und einen umfassenden Dialog von einer Region auf die andere übertragen. Wie andere Schweizer Metropolitanräume wächst der Grossraum Genf besonders stark. Die verschiedenen Teile des Lebensraums Grand Genève bilden ein enges Beziehungsgeflecht, das auch die umliegenden Räume berührt, besonders den Genferseebogen und die urbanen Zentren der Region Auvergne-Rhône-Alpes. Die enormen Herausforderungen werden noch durch die Ungleichgewichte verkompliziert, die wegen der Grenze bestehen.
Vor diesem Hintergrund haben die Kantone Genf und Waadt gemeinsam mit dem Pôle métropolitain Genevois français beschlossen, den ökologischen Umbau einzuleiten. Unter dem Namen Vision territoriale transfrontalière 2050 (Grenzüberschreitende räumliche Vision 2050) haben sie ein gross angelegtes exploratives Verfahren auf ihrem Gebiet lanciert.
Raumentwicklung als Hebel für einen Wandel unseres Lebensstils
Der Grossraum Genf wird von den Alpen und dem Juragebirge mit seinen Ausläufern begrenzt. Die ausgedehnte Fläche des Genfersees und der mäandrierende Verlauf von Rhone und Arve prägen seine Topografie und verleihen ihm eine aussergewöhnliche Schönheit. Die Topografie und die räumliche Organisation der täglichen Wege und der Wohn-, Arbeits- und Freizeitorte in diesem Gebiet bestimmen weitgehend die Lebensweise, der einen Million Einwohnerinnen und Einwohner. Die Raumplanung ermöglicht es, diese Organisation weiterzuentwickeln, um den Bedürfnissen der 400 000 zusätzlichen Personen gerecht zu werden, die laut Statistik bis 2050 zuziehen könnten. Eine grosse Herausforderung, wenn man bedenkt, dass der Platz in Genf knapp bemessen ist und es erhebliche Hindernisse zu überwinden gibt, um die Treibhausgasemissionen der Region zu reduzieren. Im Grossraum Genf werden derzeit Überlegungen dazu angestellt, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um diesen Zuwachs zu bewältigen und gleichzeitig einen qualitätsvollen und nachhaltigen Lebensraum für die gesamte Bevölkerung zu erhalten. Die Vision für die Weiterentwicklung des Gebiets muss sich unter anderem mit den Zielen für die Senkung der Treibhausgasemissionen, die Anpassung an den Klimawandel und den Schutz der Artenvielfalt vereinbaren lassen. Der angestossene Prozess dient nun dazu, die Handlungsfelder der Raumplanung zu identifizieren und Einzelheiten der Umsetzung festzulegen. Ziel ist es, eine neue Generation von Unterlagen für die Raumplanung zu erstellen, die den ökologischen Herausforderungen Rechnung trägt.
Eine Roadmap
Bei der Revision des kantonalen Richtplans im Jahr 2020 hat der Kanton Genf partizipativ eine Roadmap erarbeitet. In die Überlegungen wurde rasch auch der Grossraum Genf einbezogen, und zwar auf räumlicher wie auch auf institutioneller Ebene. Daraus ist ein Fahrplan entstanden, der Ende 2021 vom Staatsrat verabschiedet wurde und den Auftrag sowie die Ziele enthält.
Letztere beruhen auf der Erklärung des Staatsrats von 2019 zum Klimanotstand, dem kantonalen Klimaplan und der 2022 unterzeichneten Charta Grand Genève en transition. Die Roadmap legt überdies die Schritte und die Methode zur Durchführung vorbereitender Arbeiten fest, die unter anderem in die Revision des Genfer kantonalen Richtplans und in die nächste Generation der französisch-waadtländisch-genferischen Agglomerationsprogramme einfliessen werden.
Projektbasierter und praxisnaher Ansatz
Diese Methode fördert einen projektbasierten und praxisnahen Ansatz. Testplanungen binden die betroffenen Akteure stark ein, vor allem die Gemeinden und die Vereine. Das sorgt für eine lokale Verankerung, welche die spätere Umsetzung erleichtert. Anhand der Untersuchungen und der raumbezogenen Szenarien von transdisziplinären Teams wird schrittweise eine gemeinsame Vision erarbeitet. Die vorgebrachten Konzepte werden lokal in Fokusgruppen auf ihre Relevanz getestet und gegebenenfalls in grösserem Massstab reproduziert. Dieses iterative Vorgehen führt zu einer gewissen Dynamik bei der Formulierung von räumlichen Hypothesen, die in der Folge so verfeinert und konsolidiert werden, um die regionalen Bedürfnisse zu erfüllen. Auf diese Weise entsteht aus der Gesamtvision ein kohärentes und gemeinsames Raumkonzept, das auf den lokalen Identitäten fusst.
Grundlegender Perspektivenwechsel
Die endgültige Fassung der grenzüberschreitenden räumlichen Vision 2050 soll im Sommer 2024 vorliegen. Eine Standortbestimmung zur Halbzeit erlaubt es aber jetzt schon, erste Schlüsse zu ziehen und die Vision zu umreissen. Einige Anforderungen an die Raumplanung sind bereits klar. Nicht fehlen dürfen die Konzepte «ökologische Decke» und «gesellschaftliches Fundament», welche die Wirtschaftswissenschaftlerin Kate Ratworth in ihrer Donut-Theorie verwendet. Dabei handelt es sich um einen echten Perspektivenwechsel: So soll künftig bei der Planung die «lebendige Welt» mit ihren natürlichen Ökosystemen im Vordergrund stehen. Auf die Entwicklung nach innen sollen positive Wiederherstellungs- und Aufwertungsprozesse in bereits urbanen Gebieten folgen. Die Verdichtung und Neuplanung von Städten begünstigen zudem kurze Wege und einen sparsamen Umgang mit Ressourcen. Weil der Schwerpunkt auf das Lokale und auf eine zirkuläre Wirtschaft gelegt wird, sinkt zudem der Bedarf an Mobilität. Dennoch ist ein koordiniertes Vorgehen nach wie vor dringend nötig. In verschiedenen Bereichen zeigt die Zwischenbilanz aber auch Gegensätze, mit denen man sich befassen muss. Im Umweltbereich gilt die Devise: weg vom Silodenken und hin zu einem ökosystemorientierten Denken und Handeln. In Bezug auf die Mobilität stellt sich die heikle die Frage einer verbesserten Erreichbarkeit, die allerdings zu einer Zersiedelung der Städte führen würde. Ein Thema bleibt auch das Gleichgewicht und die Ungleichheiten zwischen der Schweiz und Frankreich. Und schliesslich sind da noch die laufenden Projekte, welche die Frage aufwerfen, ob wir tatsächlich in der Lage sind, Vorhaben zu bremsen oder neu auszurichten, die unseren Klimaneutralitätszielen zuwiderlaufende. Vielleicht lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht alle Fragen beantworten. Doch wir müssen uns damit beschäftigen.
Eine Vision für den Grossraum Genf als Beitrag zum Raumkonzept Schweiz
Die eingehende Analyse eines Raums ist auch mit Blick auf einen grösseren Kontext wichtig. Für die Ausarbeitung eines Raumprojekts, unabhängig seiner Grösse, ist es von entscheidender Bedeutung, die Verflechtungen und Wechselwirkungen zwischen benachbarten Gebieten zu verstehen und über die Relevanz dieser Verbindungen nachzudenken. Beim Betrachten des Grossraums Genf werden die grossen territorialen Gleichgewichte deutlich, und es lassen sich neue komplementäre Elemente erkennen. Neue Akzente werden gesetzt, und neue Arten, das Gebiet zu bewohnen, werden entstehen. Es handelt sich um Schattierungen und Farbtöne, die den Raum Schweiz bereichern. Sein Gesicht verändert sich unter den täglichen Einflüssen. Die grenzüberschreitende räumliche Vision 2050 mit ihrer lokalen Verankerung, ihrem projektbasierten Ansatz und der lebendigen Welt im Zentrum verleiht somit der Überarbeitung des Raumkonzepts Schweiz eine regionale Note.
Ariane Widmer ist die kantonale Stadtplanerin von Genf. In dieser Funktion ist sie für die gemeinsame Gestaltung der Vision der Raumentwicklung zuständig, wobei der Fokus auf der Qualität liegt. Darüber hinaus leitet sie gemeinsam mit den Verantwortlichen des französisch-waadtländisch-genferischen Agglomerationsprogramms das Projekt zur Umsetzung der Vision territoriale transfrontalière 2050.